Forschungsgeist von Anfang an
Forschungsgeist von Anfang an
Leidenschaft für Wildtiere
Die junge Veronika Bühler hätte sich wohl für ein Biologiestudium entschieden oder Veterinärmedizin studiert, wäre sie nicht in eine Zeit hinein geboren, als wissenschaftliche Ausbildungen für Frauen als Verschwendung galten. Sie hatten ihren festen Platz im Haus und «heirateten ja sowieso». Veronikas Eltern haben aber sicherlich ihr Interesse für die Natur geprägt, denn auch sie waren naturverbunden und entschieden sich 1920 für ein Leben auf dem Lande in Berg am Irchel. Im idyllisch gelegenen Dorf wuchs Veronika auf und besuchte als eines der ersten Mädchen das Lateingymnasium in Winterthur. Mit ihrem ersten Mann Beat Frey lebte sie in Bern und bekam zwei Kinder, Regina und Patrick. Nachdem ihr Mann früh verstarb, zog die junge Mutter mit den Kindern zurück nach Berg und begann, verletzte Greifvögel aufzunehmen, die sie im Garten ihres schönen Landsitzes pflegte.
Forschung seit den Anfängen der Greifvogelstation
Obwohl sie keine Ausbildung als Tierpflegerin genossen hatte, pflegte sie die verletzten Tiere mit grosser Hingabe. Ihr Wissen wuchs mit jedem Pflegefall über die Jahre zu einem umfassenden Verständnis für Greifvögel und Eulen. Auch sprach es sich herum, dass sich Veronika Frey, die später durch eine zweite Heirat den Namen von Stockar annahm, um kranke oder verletzte Greifvögel kümmerte. So etablierte die engagierte Tierschützerin 1956 eine regionale Anlaufstelle – die Greifvogelstation.
Zu jedem Patienten notierte sie in Handbüchern Art, Fundort und Umstände des Fundes, stellte eine Diagnose und notierte akribisch den Krankheitsverlauf und die medizinische Versorgung. Die Korrespondenz mit dem Tierspital in Zürich, insbesondere mit Dr. Ewald Isenbügel, wurde dokumentiert und schliesslich der Erfolg oder Misserfolg der Pflege festgehalten – eigentlich genau so, wie wir es heute noch tun! Auf Grund ihrer Notizen verbesserte sie die medizinischen und pflegerischen Massnahmen stets. Gedanken zur möglichst artgerechten Haltung der Greifvogel-Patienten führten zu neuen Lösungen: Anfangs wurden die Greife noch in falknerischer Tradition in sogenannten «Hütten» gehalten. Später entwarf sie auf Grund ihrer Beobachtungen Pflegeboxen, wie sie grundsätzlich bis heute verwendet werden.
Ehrendoktorwürde für Veronika von Stockar
2007 verlieh die Vetsuisse-Fakultät der Universität Zürich Veronika von Stockar die Ehrendoktorwürde als Anerkennung für ihre herausragenden Verdienste im Bereich der Wildtierpflege. Insbesondere wird der «unter tierschützerischen Aspekten vernünftige Umgang mit Wildtieren» sowie ihr «mit akribischer Sorgfalt angesammeltes Datenmaterial für das Verständnis von Biologie und Erkrankung von Greifvögeln» gewürdigt.*
Bis ins hohe Alter stand Frau von Stockar mit Leib und Seele im Dienst der verletzten Vögel. Sie hatte immer Zeit für Schulklassen, die sie gerne persönlich durch die Greifvogelstation führte, um ihnen das Verständnis für Greifvögel näher zu bringen. Stets war es ihr ein grosses Anliegen, ihr Wissen über die Greifvögel und Eulen zu teilen und ein Bewusstsein für deren Bedürfnisse zu vermitteln.
Forschungsarbeit auf der Greifvogelstation heute
Wir beteiligen uns an einem Wiederansiedlungsprojekt für Habichtskäuze, arbeiten bei der Beringung unserer Patienten eng mit der Vogelwarte Sempach zusammen und helfen mit verschiedenen anderen Forschungsprojekten, das Wissen über Greifvögel und Eulen stetig zu vergrössern. Jährlich werden rund 300 Patienten aufgenommen, bei einer Genesungsquote von 71 %. 2022 fanden 141 Führungen oder Freilassungsveranstaltungen mit über 2500 interessierten Personen statt. Seit anfangs 2023 sind sämtliche Daten in der neuen elektronischen Patientendatenbank erfasst, die wir anfangs Jahr vorgestellt haben.
Zurzeit werden dort auch die handschriftlichen Einträge der Gründerin erfasst, womit Daten über eine Zeitspanne von über 60 Jahren zur Verfügung stehen – eine überaus wertvolle Datenquelle und gleichzeitig das Lebenswerk von Veronika von Stockar, die heute 104 Jahre alt geworden wäre.